Montag, 9. September 2013
Ab|warten
Halbzeit.
Gestern habe ich die Hälfte der angesetzten Chemotherapien beendet. Es folgen weitere drei im 14-tägigen Rhythmus.

Danach kommt dann der Tag der Wahrheit.

Die Nebenwirkungen nehmen zu sind aber kaum wenig spürbar, nicht sichtbar.
Die Abwehrkräfte nehmen kontinuierlich ab. Spätestens nächste Woche werde ich wohl zur Vermummung greifen müssen.

Mein Seelenzustand wirkt erholt. Es ist, als wäre ich unvorhergesehen in einen dunklen Tunnel geraten, der mich nach ungefähr zwei Wochen wieder frei gegeben hat. Ohne ein Licht am Ende. Irgendwann war ich durch.

Die Konsequenzen sind durchdacht.
Jetzt befinde ich mich im Niemandsland.
Hier ist es nicht mehr dunkel aber fad.
Zweidimensional.
Leer.
Lachen erzeugt kein Echo.

In spätestens vier, fünf Wochen geht es wieder durch einen dunklen Tunnel.
Mit oder ohne Licht am Ende.

Wünschen Sie mir Glück.

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Montag, 26. August 2013
Ab|schied
Mit der Überschrift habe ich nun schon zweimal den Tod mir nahestehende Menschen betrauert.
Hier nun geht’s um mich.

Eigentlich wollte ich so anfangen:
Ich habe wenig gute und viele schlechte Nachrichten.

Zuerst die Guten:
Meinem Kind geht es gut.
Ich habe mit dem Rauchen aufgehört. [Eigentlich ganz einfach bei 47 Tagen KH-Aufenthalt, davon 31 in Rückenlage]
Und ich bin wieder verheiratet. [Ging ganz schnell. Nottrauung. Ich trug ein OP-Hemd, alle anderen Anwesenden blaue Kittel, Haube und Mundschutz]
Und ich habe eine schwere Sepsis überlebt – sogar ohne Verlust einer unteren Körperextremität. Bei einer Mortalität von 80 % ein Grund zum Feiern.

Dann habe ich gemerkt, dass die guten Nachrichten die schlechten in ihrer Anzahl überwiegen.
Dafür sind die schlechten Nachrichten schwerwiegender.
Da bin ich dann wieder beim Füllstand des Glases.
Und sehen Sie es mir nach: Mein Glas ist halb leer.

Womit ich bei den schlechten Nachrichten bin:
Darmkrebs, lebermetastasiert. Ungünstige Prognose.
Derzeit nicht operabel. Damit seit zwei Wochen Chemotherapie.

Eine ebenso passabler Einstieg wäre vielleicht auch der (um ein Fragezeichen ergänzte) Romantitel des zweiten Romans von Josh Bazell gewesen:
Einmal Hölle und zurück.
Aber wie ich herausgefunden habe, ist diese Phrase schon so häufig benutzt worden, da wollte ich mich dann auch nicht mehr einreihen.

Aber es fühlt sich so an. Wie auf dem Weg zur Hölle.
Und mir bleibt nicht viel mehr als zu hoffen, dass es keine Reise ohne Wiederkehr ist.
Das das Ende noch offen ist. Und glücklich werden kann.

Sie machen sich keine Vorstellung davon, was eine solche Diagnose mit Ihnen macht.
Bevor sie mir gestellt wurde, hätte ich jedem, der mir das gleiche entgegengebracht hätte, mit einem „Doch, doch …“ geantwortet.
Aber glauben Sie mir: Sie haben keine Vorstellung.
Es sei denn, Sie haben ähnliches er- und überlebt.
Und wenn Sie dabei nicht verrückt geworden sind, seien Sie sich meines Respektes sicher.

In meinem letzter Eintrag hier ging es um mein Empfinden von Angst:
Hab ich mich bisher (in meinem zweiten Leben) als angstfrei gefühlt (rückblickend trifft es nicht ängstlich besser) so spielt mir meine Phantasie jetzt schon mal den ein oder anderen Streich - in der Sorge um den Nachwuchs.

Jetzt kann ich Ihnen versichern:
Ich habe eine Scheissangst.

... und sehen Sie mir bitte nach, dass die Komentarfunktion abgeschaltet ist.
Ich wüsste diesen nichts zu erwidern.


Edit: Die Gesichtsrasurzyklen nehmen deutlich ab. Von Vorteil.

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Mittwoch, 5. Juni 2013
Ab| jetzt mal mit Gefühl ...
Alternativ hätte die Überschrift auch lauten können:
Ab|leger und Ab|ort
aber ich wollt' Sie nicht verwirren das klang mir zu brachial ...

Ich habe mal -mehrmals - mit einem Bauchmenschen Doppelkopf gespielt.
Es lässt sich drüber streiten ob es nicht bei dem Versuch geblieben ist.
Fragwürdige Spielaktionen dieses Bauchmenschen habe ich hilfestellend hinterfragt und sinnvolle Alternativen dargelegt, da der Bauchmensch noch am Lernen war.
In der Regel bekam ich zur Antwort: Ich weiß, aber mein Bauch hat was anderes gesagt.
Der Hinweis, dass dies Spiel Doppelkopf und nicht Doppelbauch heißt, und auch deshalb der Kopf der bessere Berater sein könnte, waren von keiner großen Relevanz.

Kurzum: Ich kann Kopf. Vielleicht Intuition. Ich kann nicht Bauch.

Vor Jahren, zehn vielleicht, habe ich an einer Familienaufstellung teilgenommen.
Ein Wochenende.
Zweimal.
Mit der besten Freundin, die alles arrangierte und auch selbst aufstellen wollte.
Ich war von der Idee fasziniert, nicht überzeugt aber interessiert genug um mir das mal an zugucken.

Das drumherum war tatsächlich sehr familiär gehalten. Als Veranstaltungsort ein Gemeindezentrum, kein Teilnehmer erschien alleine, aufgrund der dörflichen Umgebung kannten sich viele (ich nur die Freundin um umgekehrt), das Mittagessen bestritt man aus den mitgebrachten Speisen der Teilnehmer.

In dem großen Raum war ein Stuhlkreis von bestimmt vierzig Stühlen aufgestellt. Immerhin verbrachten wir am Wochenende gut zwölf Stunden miteinander. Und auf jedem Stuhl lag eine Packung Taschentücher.

Es dauerte eine Weile, bis ich in die Aufstellungen als Stellvertreter einbezogen wurde. Im Laufe des Wochenendes dann aber immer häufiger, woran das zweite Wochenende quasi nahtlos anknüpfte, zumal sich dort einige Probanden aus dem ersten Wochenende wieder einfanden.

Das fand ich merkwürdig. Hatte ich doch eher eine distanzierte Haltung gegenüber dieser Diagnosestellung. Anfangs zumindest.

In einer Pause frug ich den Aufstellungsleiter danach, warum ich denn relativ häufig als Stellvertreter gewünscht wurde.
Ich könne die empfunden Gefühle sehr gut und verständlich wiedergeben war sein Eindruck.

Er selbst bat mich innerhalb einer laufenden Aufstellung einmal dazu und gab mir eine Stellvertretung ohne diese mir oder den anderen bekannt zu geben.
Ich sollte mich in der Nähe der Hauptperson aufhalten. Meine Nähe gefiel ihr. Am Ende stand ich hinter einer Frau, die vom Alter her meine Mutter hätte sein können, und hielt diese eng umschlungen.
Und uns beiden gefiel das.
Damit nahm der Aufstellungsleiter mich wieder aus meiner Stellvertretung heraus, bat mich wieder Platz zu nehmen und erklärte mir und den Anderen ich wäre der Tod gewesen.

Heute bereitet mir das unbehagen. Damals nicht.

Ich bin ein Kopfmensch. Mit Emotionen tue ich mich schwer.
Ich kokettiere deshalb auch gerne mal damit autistische Züge zu besitzen was näher betrachtet natürlich nicht zutrifft.

In der letzten Aufstellung, zweites Wochenende, die Jacke bereits griffbereit, hat es mich dann erwischt.
Eine Frau aus der Nähe des Veranstalters sollte mit ihrer Aufstellung den Abschluss machen. Sie hatte - wann auch immer - ein Zwillingspärchen abgetrieben und wollte mit ihren beiden Kindern gerne eine Versöhnung finden in dieser Aufstellung. Das war zumindest mein Eindruck. Die Stellvertreter hatte sie bereits ausgesucht. Ihr Lebensgefährte (nicht der Vater) und eine ihrer Freundinnen.
Kurz bevor es los ging bemerkte der Aufstellungsleiter, dass die Zwillinge doch Jungs seien. Da könnte eine Frau nicht die richtige Stellvertretung übernehmen. Also suchte sie für die Freundin schnell Ersatz und landete prompt bei mir.

Sie setzte sich auf einen Stuhl und wir Kinder saßen zu ihren Füßen mit den Rücken ihren Beinen zugewandt.
Was dann auf der Gesprächsebene ausgetauscht wurde habe ich nicht mitbekommen oder wieder vergessen.
Ich wurde von einer tiefen Traurigkeit erfasst, die sich grenzenlos anfühlte. Keine Wut, keine Bitterkeit, kein Hass. Nur Traurigkeit. Da war nichts, aber auch gar nichts anderes als Trauer.
Ich habe vorher schon häufig getrauert und auch danach. Niemals aber war die Traurigkeit alleine. Immer war sie begleitet von Wut und Liebe, von Kälte und Wärme, Zuneigung, Hilflosigkeit, Resignation, Hoffnung.
Damals war da nur die Trauer.
Unendlich.

Ich habe Rotz und Wasser geheult. Minutenlang. An der Schulter dieser Mutter.
Inmitten eines großen Stuhlkreise durchtränkte ich den Pullover einer mir fremden Frau mit Tränen und Nasensekret.
Unfähig los zulassen.

Der Aufstellungsleiter hatte es nicht leicht, trotz Hilfe aus seinem Team, mich aus der Stellvertretung zu holen.
Vielleicht wollte ich da auch gar nicht weg.

Ich habe nie wieder Gefühle in dieser Intensität erlebt.
Und ich war nie wieder von einer solchen Trauer erfüllt.
Die Distanz, die ich gegenüber Emotionen hatte, war wieder die alte.

Bis der kleine Ab|leger kam.
Es hat etwas gedauert das zu erkennen, aber Gefühle nehmen nach und nach eine gewichtigere Rolle in meinem Leben ein.
Das mag allen Eltern so gehen, ich weiß es nicht.
Das Shopgirl zumindest zeigt seit der Geburt auch mehr Gefühlsausbrüche.

Hab ich mich bisher (in meinem zweiten Leben) als angstfrei gefühlt (rückblickend trifft es nicht ängstlich besser) so spielt mir meine Phantasie jetzt schon mal den ein oder anderen Streich - in der Sorge um den Nachwuchs.

Jetzt kann ich neben Kopf wohl auch Bauch. Auch wenn es sich wie eine Fremdsprache anfühlt, die ich zwar schon verstehe aber deren Aussprache ich noch übe.

Vielleicht hat es bei mir aber auch was mit einem Baby zu tun.
Einem Baby, das Willkommen ist und einem, das es nicht war.
Ich habe nur noch nicht herausgefunden, welche Rolle ich dabei einnehme ...

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