Ab| jetzt mal mit Gefühl ...
Alternativ hätte die Überschrift auch lauten können:
Ab|leger und Ab|ort
aber ich wollt' Sie nicht verwirren das klang mir zu brachial ...

Ich habe mal -mehrmals - mit einem Bauchmenschen Doppelkopf gespielt.
Es lässt sich drüber streiten ob es nicht bei dem Versuch geblieben ist.
Fragwürdige Spielaktionen dieses Bauchmenschen habe ich hilfestellend hinterfragt und sinnvolle Alternativen dargelegt, da der Bauchmensch noch am Lernen war.
In der Regel bekam ich zur Antwort: Ich weiß, aber mein Bauch hat was anderes gesagt.
Der Hinweis, dass dies Spiel Doppelkopf und nicht Doppelbauch heißt, und auch deshalb der Kopf der bessere Berater sein könnte, waren von keiner großen Relevanz.

Kurzum: Ich kann Kopf. Vielleicht Intuition. Ich kann nicht Bauch.

Vor Jahren, zehn vielleicht, habe ich an einer Familienaufstellung teilgenommen.
Ein Wochenende.
Zweimal.
Mit der besten Freundin, die alles arrangierte und auch selbst aufstellen wollte.
Ich war von der Idee fasziniert, nicht überzeugt aber interessiert genug um mir das mal an zugucken.

Das drumherum war tatsächlich sehr familiär gehalten. Als Veranstaltungsort ein Gemeindezentrum, kein Teilnehmer erschien alleine, aufgrund der dörflichen Umgebung kannten sich viele (ich nur die Freundin um umgekehrt), das Mittagessen bestritt man aus den mitgebrachten Speisen der Teilnehmer.

In dem großen Raum war ein Stuhlkreis von bestimmt vierzig Stühlen aufgestellt. Immerhin verbrachten wir am Wochenende gut zwölf Stunden miteinander. Und auf jedem Stuhl lag eine Packung Taschentücher.

Es dauerte eine Weile, bis ich in die Aufstellungen als Stellvertreter einbezogen wurde. Im Laufe des Wochenendes dann aber immer häufiger, woran das zweite Wochenende quasi nahtlos anknüpfte, zumal sich dort einige Probanden aus dem ersten Wochenende wieder einfanden.

Das fand ich merkwürdig. Hatte ich doch eher eine distanzierte Haltung gegenüber dieser Diagnosestellung. Anfangs zumindest.

In einer Pause frug ich den Aufstellungsleiter danach, warum ich denn relativ häufig als Stellvertreter gewünscht wurde.
Ich könne die empfunden Gefühle sehr gut und verständlich wiedergeben war sein Eindruck.

Er selbst bat mich innerhalb einer laufenden Aufstellung einmal dazu und gab mir eine Stellvertretung ohne diese mir oder den anderen bekannt zu geben.
Ich sollte mich in der Nähe der Hauptperson aufhalten. Meine Nähe gefiel ihr. Am Ende stand ich hinter einer Frau, die vom Alter her meine Mutter hätte sein können, und hielt diese eng umschlungen.
Und uns beiden gefiel das.
Damit nahm der Aufstellungsleiter mich wieder aus meiner Stellvertretung heraus, bat mich wieder Platz zu nehmen und erklärte mir und den Anderen ich wäre der Tod gewesen.

Heute bereitet mir das unbehagen. Damals nicht.

Ich bin ein Kopfmensch. Mit Emotionen tue ich mich schwer.
Ich kokettiere deshalb auch gerne mal damit autistische Züge zu besitzen was näher betrachtet natürlich nicht zutrifft.

In der letzten Aufstellung, zweites Wochenende, die Jacke bereits griffbereit, hat es mich dann erwischt.
Eine Frau aus der Nähe des Veranstalters sollte mit ihrer Aufstellung den Abschluss machen. Sie hatte - wann auch immer - ein Zwillingspärchen abgetrieben und wollte mit ihren beiden Kindern gerne eine Versöhnung finden in dieser Aufstellung. Das war zumindest mein Eindruck. Die Stellvertreter hatte sie bereits ausgesucht. Ihr Lebensgefährte (nicht der Vater) und eine ihrer Freundinnen.
Kurz bevor es los ging bemerkte der Aufstellungsleiter, dass die Zwillinge doch Jungs seien. Da könnte eine Frau nicht die richtige Stellvertretung übernehmen. Also suchte sie für die Freundin schnell Ersatz und landete prompt bei mir.

Sie setzte sich auf einen Stuhl und wir Kinder saßen zu ihren Füßen mit den Rücken ihren Beinen zugewandt.
Was dann auf der Gesprächsebene ausgetauscht wurde habe ich nicht mitbekommen oder wieder vergessen.
Ich wurde von einer tiefen Traurigkeit erfasst, die sich grenzenlos anfühlte. Keine Wut, keine Bitterkeit, kein Hass. Nur Traurigkeit. Da war nichts, aber auch gar nichts anderes als Trauer.
Ich habe vorher schon häufig getrauert und auch danach. Niemals aber war die Traurigkeit alleine. Immer war sie begleitet von Wut und Liebe, von Kälte und Wärme, Zuneigung, Hilflosigkeit, Resignation, Hoffnung.
Damals war da nur die Trauer.
Unendlich.

Ich habe Rotz und Wasser geheult. Minutenlang. An der Schulter dieser Mutter.
Inmitten eines großen Stuhlkreise durchtränkte ich den Pullover einer mir fremden Frau mit Tränen und Nasensekret.
Unfähig los zulassen.

Der Aufstellungsleiter hatte es nicht leicht, trotz Hilfe aus seinem Team, mich aus der Stellvertretung zu holen.
Vielleicht wollte ich da auch gar nicht weg.

Ich habe nie wieder Gefühle in dieser Intensität erlebt.
Und ich war nie wieder von einer solchen Trauer erfüllt.
Die Distanz, die ich gegenüber Emotionen hatte, war wieder die alte.

Bis der kleine Ab|leger kam.
Es hat etwas gedauert das zu erkennen, aber Gefühle nehmen nach und nach eine gewichtigere Rolle in meinem Leben ein.
Das mag allen Eltern so gehen, ich weiß es nicht.
Das Shopgirl zumindest zeigt seit der Geburt auch mehr Gefühlsausbrüche.

Hab ich mich bisher (in meinem zweiten Leben) als angstfrei gefühlt (rückblickend trifft es nicht ängstlich besser) so spielt mir meine Phantasie jetzt schon mal den ein oder anderen Streich - in der Sorge um den Nachwuchs.

Jetzt kann ich neben Kopf wohl auch Bauch. Auch wenn es sich wie eine Fremdsprache anfühlt, die ich zwar schon verstehe aber deren Aussprache ich noch übe.

Vielleicht hat es bei mir aber auch was mit einem Baby zu tun.
Einem Baby, das Willkommen ist und einem, das es nicht war.
Ich habe nur noch nicht herausgefunden, welche Rolle ich dabei einnehme ...

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arbeitslos-so-what-the-f, Donnerstag, 6. Juni 2013, 16:06
Ich finde deine Zeilen über die Familienaufstellung sehr ergreifend - glaube aber, dass ihr leider an einen "Experten" geraten seid, der nicht besonders professionell vorgegangen ist. Viele Gefühle können sich übertragen und deine gefühlte Trauer kann ein Ausagieren des Schmerzes und der Traurigkeit dieser Mutter gewesen sein. Ich hoffe von Herzen, dass alle TeilnehmerInnen dieses Seminars dies ohne bleibende psychische Schäden überstanden haben - jemanden als Stellvertreter für den Tod auszuwählen finde ich unverantwortlich.
Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch ein "Bauchgefühl" hat - wir haben es uns nur über die Jahre abtrainiert! Denk an deine Kindheit - damals hast du sicher so ziemlich alle Entscheidungen aus dem Bauch getroffen! Liebe Grüße

slyboots, Freitag, 7. Juni 2013, 10:32
Denke ich an die in meine Kindheit getroffenen Entscheidungen bin ich ganz schnell wieder beim Doppelkopfspiel am Anfang meiner Einlassung.
Ich halte kindliche Entscheidungen auch nicht für ein Synonym von klugen Entscheidungen.
Intention - keine Frage. Da sind Kinder weit vorne.

Aufgrund der Referenzen des Aufstellungsleiters und seines Teams mag ich mir ein Urteil bezüglich der Kompetenz nicht erlauben. Auch glaub ich, dass diese Form der Analyse umstritten genug ist, als das es sich über einzelne Zulässigkeiten bei den Stellvertretungen streiten, geschweige denn ein richtig oder falsch definieren ließe.
Aus meiner Erinnerung heraus würde ich behaupten: Mir hat es nicht geschadet und der Frau hat es geholfen.

berenike, Freitag, 19. Juli 2013, 14:37
Ich finds grundsätzlich nicht unverantwortlich, jemanden den Tod repräsentieren zu lassen. Warum auch, er gehört doch zu jedem Leben dazu. Unverantwortlich wäre es eher, so wichtige Themen wie den Tod auszuklammern.

novemberregen, Freitag, 7. Juni 2013, 11:49
Hab ich mich bisher (in meinem zweiten Leben) als angstfrei gefühlt (rückblickend trifft es nicht ängstlich besser) so spielt mir meine Phantasie jetzt schon mal den ein oder anderen Streich - in der Sorge um den Nachwuchs.

Ich kann gut verstehen, was Sie meinen, und habe diesen Themenkomplex mit einer Freundin mal sehr lange gewälzt. Wir konnten es dann irgendwann auf diese Formel zusammenfassen: als die Kinder kamen, sind wir zum ersten Mal in unserem Leben erpressbar und über die eigene Person hinaus verletzlich geworden.

Das ist nicht wertend gemeint. Es ist nur einfach so und es verunsichert.

slyboots, Freitag, 7. Juni 2013, 16:22
Das ist es.
Erpress- und Verletzbar.

berenike, Freitag, 19. Juli 2013, 14:35
Danke für diesen Beitrag. Sobald mein kleines Mädchen etwas größer ist, will ich auch mit der Familienaufstellungsarbeit beginnen.

okavanga, Donnerstag, 21. November 2013, 01:25
Woran erkenne ich denn einen seriösen "Veranstalter" für Familienaufstellung? Gerade lief auf SWR eine interessante Doku zu diesem Thema, das beschäftigt mich und ich könnte mir vorstellen, das zu versuchen.

slyboots, Donnerstag, 21. November 2013, 20:25
Gute Frage. In meinem Fall war das mein subjektiver Eindruck.
Organisiert worden ist die Veranstaltung vom örtlichen Allgemeinmediziner, der auch die jeweiligen Familienkonstellationen im Vorfeld zusammengestellt hat. Auf dem Dorf. Im Gemeindesaal. Die Teilnehmer haben durch mitgebrachte Speisen das jeweilige Mittagessen gemeinsam gestaltet.
Für die Teilnahme war zwar ein Entgelt zu entrichten aber dies offensichtlich nicht gewinnoptimiert. Ich meine 20 DM für "einfache Teilnehmer" und 50 DM wenn die eigene Familie aufgestellt wurde.
Der eigentliche Aufsteller kam - wenn ich meinen Erinnerungen trauen kann - aus dem Freiburger Raum in den hohen Norden und ließ sich diesen Aufwand entschädigen.
Das, und der Umgang mit den Probenanden, empfand ich als ziemlich seriös.
Ich selbst habe auch schon den ein oder andern TV-Bericht verfolgt und hatte mehrfach den Eindruck, dass dort eher unseriös gearbeitet wird.
So ist aufgrund meiner Erfahrung eine große Teilnehmerzahl von Vorteil. Wenn Du aus Deiner Familie bsw. 6 Personen aufstellen sollst und kannst die Stellvertreter mal gerade aus 10 Teilnehmern auswählen, dann dürfte die freie Wahl, die ja eigentlich Dein Bauch treffen sollte, ziemlich dürftig ausfallen ...
Aber tatsächlich sind das meine subjektiven Eindrücke, die ich nicht objektiv stützen kann.

okavanga, Dienstag, 26. November 2013, 12:42
Vielen Dank für das Teilen deiner Eindrücke! Bin noch sehr unentschlossen, ich lasse das einfach mal ein bisschen sacken.

slyboots, Mittwoch, 27. November 2013, 17:22
Gerne!